Alte Aufzeichnungen lassen einem unter Umständen den Atem stocken. Zu erkennen, dass die eigenen Vorfahren fähig zu Raub, Mord und Totschlag waren, erschreckt im ersten Moment. Aber dann obsiegte die Neugier und mein eigenes Schreibtalent und deswegen wird es hier innerhalb des nächsten Jahres die wahre Geschichte als Fortsetzungsroman geben. Und so werden alle zum 100. Todestag der Hinterkaifecker die wahre Geschichte kennen.
Es sollte und durfte doch keiner wissen, wem er auf seinem Heuboden Quartier gewährt hatte. Noch war alles rings herum ruhig, noch waren die Nachbarn nicht unterwegs. Er nahm geschwind eine Brechstange und verpasste damit der Tür zur Futterkammer Einbruchspuren und er riss damit den Verschluss von der Tür zum Motorenhäuschen ab, so dass man dort ungehinderten Zugang hatte. Im Motorenhäuschen war der Benzinmotor des Bauernhofes untergebracht, er war mal der ganze Stolz von Andreas Gruber. Derzeit war er - also der Motor - aber schon wieder defekt und der Monteur, der schon lange bestellt war, ließ bereits wochenlang auf sich warten. In diesem Zustand war der Motor jedenfalls keine Erleichterung bei der Arbeit auf dem Hof. Vom Motorenhäuschen gingen nur kleine Löcher in den Stadel, durch die die Riemen liefen. Ein Mensch kam von hier aus nirgends hin, es war wie eine Sackgasse und da der Motorblock zu schwer zum Stehlen war, schien es Andreas Gruber keine große Gefahr, die Tür unverschlossen zu lassen, auch in diesen schweren Zeiten, in denen viel Gesindel, Hausierer und Verbrecher unterwegs waren. Angriff ist die beste Verteidigung, er würde nachher selber seine Nachbarn auf die Spuren aufmerksam machen und ihnen von den Einbruchspuren erzählen.
Und noch eine wichtige Mission hatte er zu bewältigen, seine Frau und Viktoria mussten informiert werden. Das würde wieder ein Gezeter geben. Insbesondere Viktoria war von seinen Geschäften gar nicht angetan, sie hatte Angst. Sie wollte weder etwas von den Waffenschiebereien wissen, die über den Hof liefen, noch wollte sie sich politisch auf eine Meinung festlegen lassen. Sie hatte Angst um ihre Kinder und Angst vor der Zukunft. Der Hof war für sämtliche Transaktionen vorbei am Auge des Gesetzes und unbehelligt von Blicken durch neugierige Nachbarn ideal, denn ein Pferdefuhrwerk oder ein Motorwagen konnte ganz schnell von Gröbern an Hinterkaifeck vorbei nach Schrobenhausen oder nach Brunnen oder von Brunnen nach Schrobenhausen oder nach Gröbern oder andere Strecken zurücklegen. Nie konnte jemand mit Sicherheit sagen, ob an Hinterkaifeck gehalten wurde und wenn ja, für wie lange Zeit. Das machte den Hof so ungemein interessant für die Waffenschiebereien, denn das Abladen oder Aufladen beanspruchte ja doch einige Zeit. Allein die Lage des Hofes führte ja schließlich dazu, dass Andreas Gruber trotz seiner Zuchthausstrafe in die örtlichen Gemeinschaft wieder voll integriert war. Er war sogar Mitglied der Einwohnerwehr Wangen und daher auch im Besitz eines Gewehres 98K.Andreas Gruber ging in die Küche, um seinen Muckefuck zu trinken. Bohnenkaffee gab es nur am Sonntag. Er stärke sich noch mit einem Kanten Brot. Eigentlich hatte er heute vor, zwei Äcker zu eggen, damit er dort noch den Hafer säen konnte, aber da nun eine Schneedecke lag, war das noch nicht der richtige Zeitpunkt. Er ging also hinaus, um Holz zu holen. Bei den tiefen Temperaturen werden sie noch ein bisschen mehr brauchen als wenn es wärmer gewesen wäre, dachte er sich. Sein Nachbar, Lorenz Schlittenbauer, pflügte derweil mit seinen Pferden den Acker, auf dem er später Kartoffeln legen wollte. "Griaß di" schrie Schlittenbauer rüber. Gruber erwiderte den Gruß. Beide Männer standen ca. 50 Meter voneinander entfernt. Schlittenbauer rief rüber, dass auf dem schneebedeckten Platz Fußspuren zu sehen seien. Gruber wusste es - die Spuren würden Ärger machen. Er versuchte möglichst unirritiert zu wirken. Ja, antwortete Gruber, das wüsste er, es hätte heute Nacht einen Einbruchversuch in der Motorenhütte und in seiner Futterkammer gegeben. Die Zeiten wären derzeit so schlecht, die Leute wären so verzweifelt, dass sie sogar das Heu schon stehlen würden, antwortete Schlittenbauer. "Aber", so Schlittenbauer weiter, "pass auf, die Spuren gehen nicht mehr von deinem Hof weg. Die Halunken sind da noch irgendwo." Schlittenbauer bot an, dem Gruber mit seiner Pistole zu Hilfe zu kommen, sie könnten miteinander den Stadel und den Heuboden durchsuchen. "Nein, nein", wehrte Gruber innerlich erschrocken ab, "das schaffe ich schon alleine. Denen werde ich es schon zeigen." "Wie du meinst" erwiderte Schlittenbauer und pflügte weiter. Gruber hackte weiter Holz, da ging auch schon der Bauer Stegmair vorbei, blieb stehen und grüßte. Gruber machte auch ihn auf die Spuren aufmerksam und dass er davon ausging, dass das ein paar Spitzbuben wären. Nach einem kurzen Plaudern setzte Stegmair seinen Weg fort und Gruber ging mit dem Brennholz in den Stall und von dort in die Küche. Die Tür von der Küche direkt nach draußen war, seit dort die Wasserleitung gelegt war, nicht mehr passierbar. Er schlichete das Holz neben dem Ofen auf. Seine Frau saß am Tisch und schälte Kartoffeln und der kleine Josef spielte am Fußboden unter dem Tisch mit Bauklötzen. Gruber begab sich wieder in den Stall, in dem Viktoria ihre Arbeit verrichtete und sagte ihr, sie solle mitkommen. Sie hob erstaunt den Blick, folgte ihm aber nach draußen. Dort zeigte er ihr die Fußspuren und auch die von ihm selber getürkten Einbruchsspuren. Justament zu dem Zeitpunkt kam auch noch der Postbote und brachte die Zeitung. Gruber wollte Viktoria jetzt noch nicht einweihen, das würde er erst heute Abend erledigen. Aber er musste mögliche Gerüchte vor ihrem Entstehen entkräften, deswegen beschloss er, noch heute nach Schrobenhausen in die Eisenwarenhandlung zu gehen und auch dort von dem Einbruch zu berichten. Zu seiner Tochter sagte er, dass er in die Stadt ginge und sie könne ja mitkommen, denn sie brauchte neue Zündhölzl. Sie willigte ein. Beide gingen wieder in den Stall zurück und da war es zu hören - deutliche Schritte auf dem Heuboden. Viktoria erschrak und sagte zum Vater: "Da sind ja Gestalten oben!" Gruber beruhigte sie, er würde am Abend nach dem Heimkommen von Schrobenhausen nachsehen und dem Spuk ein Ende bereiten. Aber jetzt sollten sie sich beeilen, damit sie noch im Hellen wieder heimkämen.
Am Abend war es dann soweit. Nach dem Essen - es gab Brennsuppe, schließlich war Fastenzeit -
brachte Viktoria die Kinder ins Bett. Er, Andreas Gruber, blieb noch, entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten, am Tisch sitzen und wartete auf ihre Rückkehr aus dem Schlafzimmer. "Komm mit", befahl er ihr, als sie auf dem Weg zum Stall nochmal durch die Küche kam. Seine Frau, schon am Spülstein mit dem Abwasch beschäftigt, horchte auf und drehte sich zu den beiden um. Er schlurfte zur Haustür, Viktoria hinterher, und öffnete die Türe. Seine Frau drehte sich ohne erkennbare Reaktion wieder dem Spülstein zu und widmete sich geschäftig dem schmutzigen Geschirr. Andreas Gruber ging zur Remise, dicht gefolgt von seiner Tochter. Viktoria sagte: "Aber wir wollten doch den Heuboden durchsuchen." Bei der Remise angekommen, drehte sich Gruber sich zur Viktoria um und begann mit seiner Ansprache, wie er das folgende im Geist nannte: "Auf dem Heuboden haben ich zwei Leute einquartiert. Die sind gefährlich und werden von der Polizei gesucht. Frag nicht, warum. Darüber darf ich nichts sagen. Aber niemand, ich wiederhole, niemand, wirklich niemand darf davon erfahren, sonst werden wir alle erschlagen. Hast du das verstanden?" sprach er leise aber eindringlich zu Viktoria. Viktoria aber, mit einem aufbrausendem Temperament gesegnet, kam ganz nah auf ihren Vater zu und grollte ihn leise, aber gefährlich an: "Wie stellst du dir das vor? Die Kinder werden das merken. Soll ich sie im Keller einsperren, so wie du früher? Du kannst doch kein gefährliches Pack unter unserem Dach beherbergen. Morgen früh wirfst du sie raus!" Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und stapfte entschlossen Richtung Haustür. Andreas Gruber sprang wie ein wildes Tier in ihren Rücken und hielt sie grob am Arm fest. "Du machst, was ich dir sage." herrschte er sie an. Sie aber konnte ihre Tränen der Wut und Ohnmacht nicht mehr zurückhalten und giftete nur: "Lieber gehe ich ja noch ins Wasser", riss sich von ihm los und rannte davon.
Andreas Gruber ging zurück ins Haus in die Küche. Die Haustür ließ er unverschlossen, Viktoria musste ja noch zurückkommen. Er setzte sich an den Küchentisch und seine Frau, die jetzt mit dem Abwasch fertig war, setzte sich zu ihm. Beide schwiegen gedankenverloren. So saßen sie eine ganze Weile, als die kleine Cilli in die Küche kam und sich verwundert erkundigte, wo denn die Mutter bliebe. Die alte Frau Gruber nahm die Enkeltochter an der Hand, beruhigte sie, die Mutter wäre noch spazieren gegangen und käme gleich wieder und führte die kleine Cilli wieder ins Schlafzimmer. Dort krabbelte Cilli ins Bett und ließ sich von der Oma zudecken. Auf dem Weg zur Tür senkte Cäzilia Gruber kurz den Zeigefinger in den neben der Tür hängenden Weihwasserkessel, drehte sich zur Cilli um und machte ihr mit dem Zeigefinger das Kreuzzeichen auf die Stirn. Dazu flüsterte sie: "Gott schütze dich.". Sie kehrte wieder zur Tür zurück und schloss diese leise hinter sich. Dann ging sie wieder zurück in die Küche. Dort angekommen sagte sie ruhig und entschlossen zu ihrem Mann, dass sie jetzt rausginge und Viktoria suchen würde. Andreas Gruber stand vom Tisch auf, nahm eine Laterne und sagte zu seiner Frau, dass er mitkäme.
Cilli lag hellwach im Bett und konnte vor Sorge nicht schlafen. Die Deckenbalken knarzten mehr als sonst, als ob jemand im Heuboden wäre, dachte sie. Nur sie und Josef waren noch im Haus, das war sehr beunruhigend.
Cilli lag, die Muskeln sprungbereit angespannt, im Bett und lauschte den Atemzügen ihres Bruders. Halbbruders eigentlich, aber für sie war es ihr kleiner Bruder. Sie fürchtete sich und malte sich die schlimmsten Szenen aus. Was, wenn niemand zurückkäme? Was, wenn am Heuboden wirklich Fremde wären? Wenn diese ihr oder dem kleinen Josef weh tun wollten? Sollten sie sich dann verstecken oder weglaufen. Aber der kleine Josef konnte noch nicht sonderlich schnell laufen. In ihrer Angst fing sie an zu beten: "Bitte, lieber Gott, mach, dass Mama und Oma und Opa bald wieder da sind." Immer und immer wieder wiederholte sie in Gedanken diese Zeile. Sie versprach dem lieben Gott, wenn er Mama, Oma und Opa heil wieder heim kommen ließ, würde sie jeden Sonntag mit der Mama in die Kirche gehen ohne zu murren. Und sie würde jeden Tag beten. Und immer brav sein und machen, was Mama oder Oma zu ihr sagen. Und nie wieder ..... da, endlich, die Haustür ging auf. Gedämpfte Stimmen klangen zu ihr, sie lauschte angestrengt, ob sie hören konnte, wer alles da war. Der Opa auf jeden Fall, den erkannte sie am Schritt. Dann ging die Schlafzimmertüre auf und die Mama guckte kurz rein und Cilli hörte, wie die Oma beim Vorbeigehen sagte: "Die schlafen doch." Ah, was für eine Erleichterung, alles war gut ausgegangen, Cilli war so dankbar und glücklich und konnte dann auch endlich einschlafen.
Am nächsten Morgen half alles nichts, alle mussten wieder raus. Alle waren müde. Naja, nicht alle, Josef war munter wie immer. Aber die Erwachsenen waren müde und Cilli war totmüde. Sie hätte so im Sitzen einschlafen können. Aber das ging nicht, sie musste in die Schule. Dort würde sie sogar während des Unterrichts einschlafen. Der Lehrer nähme sich vor, mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, aber dazu würde es nie mehr kommen.
Auf dem Hof ging derweil das Alltagsgeschäft wie üblich weiter. Viktoria und ihr Vater gingen nachmittags nochmal auf das Feld. Beim Hinausgehen erinnerte Viktoria nochmal ihre Mutter daran, dass die neue Magd heute noch ankommen sollte. Gestern hätte sie sie schon auf dem Rückweg von Schrobenhausen mitnehmen wollen, aber da war sie nicht bei Ihrer Schwester.
So gegen 17 Uhr, die Sonne stand noch über dem Horizont, kam dann endlich die Magd Maria Baumgartner mit ihrer Schwester Franziska Schäfer in Hinterkaifeck an. Sie waren spät dran, weil sie sich verlaufen hatten. Die alte Frau Gruber war mit den Kindern allein im Wohnhaus, ihr Mann und ihre Tochter waren noch auf dem Feld. Nach einer kurzen Begrüßung zeigte Frau Gruber der neuen Magd das Kammerl, in dem sie wohnen würde. Die Schwester der Magd drängte auf ihren schnellen Aufbruch, denn um 19 Uhr würde es schon wieder dunkel sein und sie hätte eine einstündige Wegstrecke vor sich. Aber sie war noch da, als um halb sechs Viktoria mit ihrem Vater vom Feld heimkehrten und wechselte noch ein paar belanglose Worte mit Viktoria. Der Bauer Gruber ging gleich in den Stall, ohne bei den Frauen in der Küche reinzusehen. Nach dem kurzen Wortwechsel mit Viktoria brach Franziska Schäfer eilig auf. Maria Baumgartner sah ihr noch von der Haustür aus nach und sie winkten sich zu.
Als Maria Baumgartner in die Küche zurückkehrte, sagte Viktoria zu Maria, dass sie ihr die Stallarbeit morgen früh zeigen würde, jetzt solle sie sich erst mal von dem anstrengenden Marsch erholen. Damit wollte Viktoria unbedingt verhindern, dass Maria Baumgartner gleich davon erführe, dass sich noch zwei weitere Menschen auf dem Hof befinden. Diese Tatsache würden sie ihr erst nach dem Essen mitteilen, den dann wäre die Nacht schon so weit hereingebrochen, dass Maria unmöglich umgehend noch zurück nach Kühbach gehen könnte. Und bis morgen sähe vieles schon wieder anders aus. Maria ging also der alten Frau Gruber bei der Vorbereitung der Brotsuppe zur Hand, Josef saß derweil unter dem Küchentisch. Viktoria und ihr Vater waren im Stall mit melken, misten und füttern beschäftigt und stellten auch Brot und Milch für die beiden Männern im Heuboden oben auf die Treppe zum Heuboden hin.
Danach kehrte sie in die Küche zurück und zum ersten und auch zum letzten Mal saßen die Altbauern mit ihrer Tochter, ihren Enkeln und der neue Magd gemeinsam am Küchentisch, der alte Gruber sprach ein Tischgebet und danach wurde gemeinsam die Brotsuppe gegessen. Allerdings blieb ein ziemlich großer Rest übrig, die alte Gruberin hätte gedacht, dass die Magd mehr essen würde.
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